Ein ganz normales Wunder

Wenn es so etwas wie das „perfekte Geburtserlebnis“ gibt, dann ist es das für mich – mit all den unvorstellbaren Schmerzen, die man sich vorher nicht im Traum ausmalen kann, und mit einer großen, nicht definierbaren Angst. Es ist eine Hausgeburt, in einem (bis auf mich) ruhigen, intimen Ambiente.

Begleitet werde ich ab der ersten Wehe kurz vor Mitternacht von meinem Freund, der mich von Anfang an – trotz Stirnrunzeln und teilweise übergriffiger Kommentare aus meinem unmittelbaren Umfeld –  in meinem Wunsch nach einer Hausgeburt unterstützt. Und dann ist da noch die Hebamme Rotraud und ihre Assistentin Laura, eine Hebammen-Studentin.

Es geht los

Um halb 12 Uhr nachts wird mir klar, dass diese drei Wehen keine Vorwehen mehr sind. Es geht los. Zum Glück war ich – nachdem wir noch die am Nachmittag gekauften Ikea-Regale in ihren Kartons zur Seite geräumt haben – um 22 Uhr im Bett. Um 1 Uhr rufe ich meine Hebamme an. Die Wehen kommen zwar schon im Abstand von 4 Minuten, sind aber mit 10 Sekunden noch viel zu kurz, als dass am Muttermund etwas passiert. Ich soll sie wieder anrufen, wenn ich über eine Stunde hindurch Wehen von rund 1 Minute habe. Sie geht jetzt mal schlafen, um dann fit zu sein, denn sie hatte ja auch die Nacht davor eine Geburt.

Im Schlafzimmer und Nebenzimmer stelle ich Kerzen auf. Ich spaziere herum, hocke mich auf die Matte am Boden, ins Bett, lege mich dazwischen hin und döse in den 4 Minuten immer wieder ein, und leider schaue ich viel zu viel auf die Uhr. Ich treibe mich selbst mit dem Fokus darauf, wie lang die Wehen sein sollen, fast in den Wahnsinn. Sie werden einfach nicht länger als 15 Sekunden, wenn sie sich auch allmählich heftiger anfühlen. Mein Freund wacht immer wieder mal auf und streicht mir über den Kopf. Sein 9-jähriger ist auch bei uns. Wir hatten vereinbart, dass seine Mama ihn abholt, wenn es losgeht. Aber ihr Telefon ist ausgeschaltet. Ich bin kurz mal wütend, dann wieder gelassen. Ich kann eh nichts machen. Er schläft in seinem Zimmer. Es wird schon alles so kommen, wie es kommt. Wenn ich schreie, schrei ich halt.

Die Minuten-Marke

Um 7 Uhr rufe ich meine Hebamme wieder an. Irgendwann gegen 3 Uhr ist der Schleimpropf abgegangen, mein Darm entleert sich brav, und seit 5 Uhr sind die Wehen auf 50 bis 60 Sekunden. Aber halt nicht länger. Rotraud meint, der Muttermund sei es schätzungsweise bei ein paar Zentimetern. Ich mache irgendeinen halb-scherzhaften Kommentar. Ein Zeichen dafür, dass ich noch Zeit habe. Oh wie Recht sie hat! Erst ein paar Stunden später wird es noch heftiger. Und auf einmal ist da diese Angst. Undefinierbar. Angst und Verzweiflung. Eine gewisse Orientierungslosigkeit. Was mache ich mit den Schmerzen? Ich habe Angst vor ihnen. Nicht Angst, dass irgendetwas passieren könnte, aber einfach Angst vor dieser großen Unbekannten, die ich gerade durchlebe. Rotraud hat gesagt, ich sollte sie noch einmal anrufen, wenn ich das Gefühl habe, es geht nicht mehr allein. Mein Freund bearbeitet mich schon seit einer Stunde, ich solle sie doch anrufen.

Der Große wird um halb 9 von seiner Mama geholt. Er sieht mich halbnackt zwischen zwei Wehen erschöpft seitlich am Bett liegen. Ich lächle. Er ist besorgt. Mit 9 Jahren bekommt er eben schon viel mit. Ich bin doch erleichtert, als wir endlich allein sind, und habe das Gefühl, mich nun richtig gehen lassen zu können.

Nackt in den eigenen vier Wänden herumgehen zu können, ist überhaupt das beste an der Hausgeburt! Diese Bewegungsfreiheit möchte ich keine Minute missen. Ich bewege mich viel, gebe irgendwelche Urlaute von mir und hoffe, dass es bald vorbei ist. Als ich denke, ich kann nicht mehr allein, schickt Rotraud eine SMS: „Bin in einer halben Stunde da.“

Die Hebamme ist da!

In dem Augenblick, als meine Hebamme gegen halb 11 am Vormittag – ich hocke gerade am Fußboden – neben mir im Schlafzimmer Platz nimmt, mir über den Kopf streichelt und beginnt, sanft und doch intensiv mitzuatmen, bin ich erfüllt von einem Vertrauen in meine eigene Kraft – geistig und körperlich – wie noch nie zuvor in meinem Leben. Sie sagt mir, was ich zu tun habe, und ich versuche, dem zu folgen.

Wir probieren verschiedene Stellungen aus, dazwischen auch mal die Badewanne. Das warme Wasser entspannt. Die Fruchtblase platzt im Wasser, worüber ich ganz froh bin. Aber am Ende verkrampfe ich in der Wanne meine Beine und mein Becken. Daher wieder raus. Auch Laura, die Hebammenstudentin, streichelt und beruhigt mich. Mein Freund ist die ganze Zeit da. Seine Berührungen allerdings ertrage ich kaum. Ich brauche seine Anwesenheit, seine Stimme tut gut, aber es sind die Berührungen der beiden Frauen, die mir Kraft geben. Er hält mich in der Wanne fest, das ist gut. Sobald er mir über den Kopf oder den Arm streichelt, schubse ich ihn grob weg. Er nimmt es nicht persönlich sondern bleibt da.

Ich lehne mich dankbar an ihn an, als ich später am Geburtshocker sitze. Jetzt wird es ernst. Dass es schon die Presswehen sind, realisiere ich erst später. Ich will einfach nur, dass es vorbei ist! Ich kann nicht mehr! Warum bin ich so blöd und bin nicht wie jede normale Frau in einem Krankenhaus und lasse mir Schmerzmittel geben! Bitte bitte, komm endlich raus!

Rotraud ist unglaublich. Sie nimmt mich wahr. Sie nimmt mich ernst. Sie weiß, was ich gerade durchleben, und sie hilft mir – unter anderem schützt sie meinen Damm, was sich allerdings so anfühlt, als würde sie noch mehr unten an mir herumziehen, als es der Kopf des Babys, dass da jetzt aus mir herauskommen will, ohnehin schon tut. Bis 16 Uhr ist das Baby da, meint Rotraud lächelnd. Es ist kurz nach 15 Uhr. Ein Lichtblick! Rotraud gibt mir klare Anweisungen. Sie sagt, wie ich pressen soll. Sie sagt mir, wie ich die Kraft meiner Stimme zum Pressen verwenden kann. Ich folge ihr. Ich vertraue ihr.

Und jetzt wird es richtig ernst. Rotraud sieht mich sanft und gleichzeitig bestimmt an. „So Margit, bei der nächsten Whe musst du ganz mutig so lange pressen, wie ich es dir sage.“ Das tu ich dann auch. Und wie!!! Ich presse und presse, mit aller Kraft drücke ich heraus, was heraus soll. Ich presse und drücke und …

Es ist da!

Zu den Klängen von Haydn „Schöpfung“ (wirklich wahr!) kommt mein kleiner Bub am 10. August um 15:35 zur Welt.

Auf einmal liegt er in meinen Armen, ich in den Armen meines Freundes, und wir drei im Familienbett. Hier bleibe ich die nächsten Tage, ohne mich viel von meinem Baby wegzubewegen. Die ersten 5 Minuten habe ich keine Ahnung, ob es ein Mädchen oder ein Bub ist. Es ist mir schnurzegal! Ich bin überwältigt, erleichtert, stolz, kann es gar nicht glauben, dass ES da ist.

Die ersten Minuten, Stunden und Tage

In unserem zu Hause macht er den ersten Atemzug, kackt mir das erste Mal auf den Bauch, saugt das erste Mal an meinem Busen, schläft oder blickt mich mit diesem allwissenden Blick eines Frischgeborenen an. Die erste Stunde ist einfach nur überwältigend. So ein weiches, kleines Würmchen. Rotraud schreibt in den Mutterkind-Pass „Ganz toll geboren.“ Und auch Laura versichert mir, wie toll ich das gemacht habe. Ich habe gerade ein Kind bekommen! Es ist ganz normal, aber für mich ein riesengroßes Wunder.

Zu Hause im Nest

Hier weint er das erste Mal ein paar Stunden. Hierher bringen sie mir nach der Geburt und in den nächsten Tagen das Essen. Von hier darf ich mich in meinem Tempo Schritt für Schritt dem Leben da draußen annähern. Es ist der perfekte Start für ein Menschenkind ins Leben, in Geborgenheit und Würde. Und für mich in meine neue Existenz als Mutter. Ich bestimme, wer dabei ist, das Baby das Tempo, begleitet vom wachsamen Blick der Hebamme, die mir während der Schwangerschaft vertraut geworden ist.

Rotraud kommt in den nächsten 3 Tagen einmal täglich vorbei und erklärt, was die kommenden 24 Stunden bringen werden. Sie trifft es jedes Mal auf den Punkt. Sie wiegt unseren Kleinen, macht diverse Tests, und das wichtigste: wir reden, reden, reden. Es ist tiefes Ur-Vertrauen, dass jede halbe Stunde mit meiner Hebamme gestärkt wird. Sie teilt ihr Wissen mit uns, und ich darf die Fakten mit meinem inneren Wissen verbinden.

Rückblickend

Vor allem in der Zeit danach bekomme ich mit, wie mit Geburten in Österreich und weltweit umgegangen wird, wie Frauen sich selbst kaum wahrnehmen (dürfen), und wie „normal“ das ist. Immer wieder spreche ich mit Frauen, die mit derselben Hebamme oder einer Kollegin aus ihrem Netzwerk entbunden haben und solchen, die ganz „normal“ im Krankenhaus waren. Die Unterschiede in der Wahrnehmung der Frauen von Geburt und Wochenbett und vor allem im Vertrauen in ihre eigene Mütterlichkeit und ihre Kraft sind enorm. Ich sehe mich mit einer Unwissenheit konfrontiert, was eigentlich „risikofrei“ ist, mit Blödheit von Menschen, die was sie nicht kennen abfällig schlechtreden, und vor allem mit einer riesengroßer Angst davor, dass irgendetwas schiefgeht und nur der Herr Doktor weiß, was zu tun ist.

Ich frage mich oft, wer eigentlich seit tausenden von Jahren die Kinder bekommt und warum die Menschheit nicht ausgestorben ist, wenn das alles so gefährlich ist und hochtechnisch überwacht werden muss. Ich erkenne Geburt immer mehr als ein Zeugnis unserer niedrigen Selbsteinschätzung als Frauen. Gleichzeitig verbirgt sich hierin ein unglaubliches Potenzial, sich durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Kraft kraftvoll zu positionieren – im Familienumfeld gleichermaßen wie in der Gesellschaft.

Ich trage eine tiefe Dankbarkeit in mir für dieses große Geschenk. Jeder Frau kann ich nur nahelegen, sich wirklich Zeit dafür zu nehmen und rechtzeitig damit auseinanderzusetzen, wer die Geburt begleiten und wo und wie sie stattfinden soll.

Hinweis: meine Hebamme Rotraud Zeilinger ist Teil des Teams im Geburtshaus „Von Anfang an“ in Wien, Hietzing

Hier geht es zu meinem Blog-Beitrag über das breite Angebot im Geburtshaus, das ich während der Schwangerschaft und im 1. Lebensjahr gern in Anspruch genommen habe.

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